Warum Schreiben Flügel verleiht
„Liebes Tagebuch
Du weisst mehr über mich, als sonst ein Mensch auf der Welt. Ganz am Anfang habe ich jeden Tag berichtet, was in der Schule abging, welche Lehrer doof und welche Schulfreundinnen besonders lieb waren. Irgendwann kam die Phase mit philosophischen Ergüssen über Kalendersprüche, Namen von Jungs tauchten auf, dann die Kino-Tickets und Mini-Rezensionen über die jeweiligen Filme. Danach wurden die Einträge seltener und hörten dann für ein paar Jahre auf. Irgendwann habe ich wieder damit begonnen, dir zu schreiben. Mit dem grossen Unterschied, dass ich nun kein Schloss mehr brauchte, um den Inhalt vor fremden Augen zu schützen. Ich schrieb dir nicht mehr, um die Welt um mich herum zu kommentieren, sondern um ganz tief in mich hinein zu schauen.“
Schreiben kann tatsächlich Flügel verleihen. Ob Tagebuch, Roman oder ein Blogbeitrag, das Schreiben trägt dich in neue Abenteuer, schenkt dir hilfreiche Erfahrungen und Erkenntnisse. Du denkst, lesen genügt? Vielleicht. Beim Schreiben erschaffst oder reflektierst du deine ganz eigene Welt.
Konzentriertes Schreiben
In der Schule und im Studium schrieb ich sehr gerne Zusammenfassungen. Dabei konnte ich viel länger konzentriert bleiben, als wenn ich nur gelesen habe. Es gelang mir auch viel einfacher, ganz ins Thema einzutauchen. Viele Autoren und Autorinnen berichten über dieses Hineingleiten in eine fremde Welt, obwohl sie selber die Erschaffenden sind. Ich bin überzeugt, wenn du täglich schreibst (das muss nicht einmal lange sein), wirst du das an deiner Konzentrationsfähigkeit spüren. Hast du beispielsweise Mühe zu meditieren, kannst du mit Schreiben genauso gut das Fokussieren lernen.
Intuitives Schreiben
Mit dem Schreiben gibst du auch deiner Intuition eine Ausdrucksmöglichkeit. Du beginnst mit einem belanglosen Aneinanderreihen von Wörtern, beschreibst etwas und plötzlich spürst du, wie eine ganz neue Kraft entsteht. Das Thema wird konkret und dein Schreibtempo erhöht sich. Du kannst beobachten, wie allein aus dem Schreiben heraus neue Gedanken und oft auch Lösungen entstehen können. Du bist sozusagen bei ihrer Geburt dabei. In solchen Ereignissen sind wahre Schätze verborgen. Hebe sie!
Expressives Schreiben
Das expressive Schreiben (nicht zu verwechseln mit exzessiven Schreiben) wird immer öfter als Therapie bei der Verarbeitung von belastenden Erlebnissen angewendet. Dem Erlebten und den damit verbundenen Gefühlen schreibend einen Ausdruck zu verleihen, kann ebenso entlastend wirken, wie ein Gespräch.
„Am besten gefällt mir noch, dass ich das, was ich denke und fühle, wenigstens aufschreiben kann, sonst würde ich komplett ersticken.“ Anne Frank
Dabei ist es hilfreich, wenn das Erlebte auch aus Sicht einer dritten Person beschrieben wird. Diese Form der Dissoziation ermöglicht neue Einsichten und das Erkennen von Zusammenhängen. Gefühle ausdrücken zu können, öffnet zudem wieder den Weg zu anderen. Gerade nach traumatischen Erfahrungen zieht es viele Menschen in die Einsamkeit. Eine grosse Anzahl von Studien belegen, dass sich das expressive Schreiben bei den betroffenen Personen positiv auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirkt. Dennoch bleibt anzumerken, dass das expressive Schreiben je nach Situation eine fachlich begleitete Therapie nicht ersetzt.
Kreatives Schreiben
Bist du auch ein Mensch, der schon lange mal ein Buch schreiben wollte? Dein Kopf ist voller Ideen über Helden und Schurken, fantastische Welten, blutige Spuren oder heisse Liebesschwüre? Vielleicht liebst du aber auch einfach das Spiel mit der Sprache? Du veränderst Wörter oder erfindest neue Ausdrücke? Aber auch das Tagebuchschreiben oder das Verfassen von Memoiren gehört zum kreativen Schreiben. Tja, leider auch die mehrheitlich wenig geschätzten Aufsätze und Erörterungen in der Schule… Unabhängig davon, welche Note du jeweils bekommen hast: Du hast etwas erschaffen! Auf einem leeren Blatt hast du Wörter zu Sätzen aneinandergereiht und etwas erzählt.
Dieser Schaffensprozess schenkt sehr viel Energie, er kann aber auch süchtig machen (hier wären wir nun beim exzessiven Schreiben). Schreiben ist so oder so immer eine Selbsterfahrung. Damit meine ich nicht, ob dir eine tolle Geschichte einfällt oder du ein persönliches Erlebnis beschreibst. Es sagt dir auch etwas über dich selber: Wann kannst du kreativ schreiben? Welche Umgebung inspiriert dich? Wie gehst du mit dem „Leeres-Blatt-Komplex“ um? Bist du ein eher visueller Mensch, der als Einstieg eine Zeichnung anfertigt? Oder muss du zuerst etwas lesen, bevor du in den Schreibfluss kommst? Wie fühlst du dich beim Schreiben?
Von Hand schreiben
Das Gehirn lernt leichter, wenn du wichtige Inhalte von Hand schreibst. Es werden mehr Hirnareale aktiviert, als beim Tippen auf der Tastatur und du kannst gleichzeitig besser zuhören, während du schreibst. Das wusste wohl bereits der Reformator Martin Luther. Dank ihm nahm das Schreiben Einzug als Schulfach.
„Schreiben lernen heisst Denken lernen.“ Martin Luther
Sei ehrlich: Wie oft schreibst du noch von Hand? Die Digitalisierung hat natürlich schon ihre Vorteile. Aber das Schreiben mit Stift auf Papier bringt dich mehr in Bewegung. Du bewegst den Stift über das Papier, schwungvoll, krakelig oder wohlproportioniert. Du gibst dir selber einen Ausdruck, keine Handschrift ist genau gleich. Schreibe einmal eine halbe Seite von Hand und betrachte dein Schriftbild. Hat es schon immer so ausgesehen? Wie hat sich die Schrift verändert? Meine Handschrift war früher eher kleinkariert, heute ist sie grosszügig, nimmt mehr Platz ein, aber doch nicht zu viel. Das hat sehr wohl etwas mit meiner Persönlichkeit zu tun, die sich entwickelt.
Jetzt bist du an der Reihe!
Bei all den guten Argumenten für das Schreiben ist es Zeit, etwas auszuprobieren. Nimm deinen Lieblingsschreibstift aus alten Zeiten wieder hervor und beschaffe dir ein schönes Notizbuch. Lege los und schreibe. Irgendetwas. Wenn dir nichts einfällt, beschreibe deine Aussicht aus dem Fenster oder was du in diesem Jahr noch alles erledigen möchtest. Lasse dein Notizbuch offen liegen (natürlich nur, wenn es der Inhalt erlaubt), den Stift gleich daneben. Immer wenn du daran vorbeikommst, schreibe ein paar Zeilen. Vielleicht fällt es dir leichter, wenn du dir bewusst jeden Tag ein paar Minuten Zeit nimmst. Lasse dich überraschen, wie sich deine Texte entwickeln und vor allem was mit dir passiert.
Kein Getränk auf der Welt bringt dich zum Fliegen. Aber Schreiben verleiht Flügel! Beim Schreiben ist einfach alles möglich. Probiere es aus!
Wer schreibt da?
Mein Name ist Tanja Bischofberger. Über das Sein zu schreiben ist im Grunde ein Widerspruch. Was ohne Grenzen ist, schränke ich durch Begriffe nur ein. Dennoch liebe ich es, über Sein-Erfahrungen zu berichten. Dadurch öffnet sich vielleicht hie und da eine Tür bei einem Menschen, sich ebenfalls auf diesen wunderbaren Weg zu machen bzw. anzukommen. Vielleicht auch du?